Habitus und Kohärenzsinn

Allgemeine und spezielle Dispositionen: Die Integration von Habitus und Kohärenzsinn

Salutogenese in Organisationen

In diesem Beitrag stelle ich den Versuch einer ersten Integration eines speziell auf die „positive“ Gesundheit ausgerichteten Konzeptes – dem Kohärenzsinn – in ein allgemeines Konzept – dem Habitus – vor.

Habitus

Der Habitus ist ein Dispositionssystem von im Rahmen der Sozialisation und im Lebensverlauf gemachten Erfahrungen entwickelten Wahrnehmungs-, Denk-, Bewertungs- und Handlungsschemata (Kroneberg 2011, S. 106). Diese strukturieren unser Denken, Fühlen und Handeln in sozialen Kontexten und sind gleichzeitig ein Spiegel der Gesellschaften und ihrer Subfelder, in denen wir aufgewachsen sind und uns bewegen (vgl. Rommerskirchen 2017, S. 231).
Der Habitus ist „verinnerlichte Gesellschaft“ und bildet verinnerlichte Normen und Werte sowie kognitive Fähigkeiten ab, also das körperliche, moralische, kognitive, affektive und motivationale Repertoire eines Menschen, durch das er die Welt wahrnimmt und in dieser handelt (Miebach 2022, S. 557). Es handelt sich um eine dauerhafte Struktur von Dispositionen. Der Habitus ist die in der Gegenwart aktive Vergangenheit mit einem Sinn für die (mögliche) Zukunft (Silva 2016, S. 169). Der Habitus ist somit eine Art „sozialer Kompass“, der auf das jeweilige soziale Umfeld abgestimmt ist und sich über die Zeit hinweg durch wiederholte Praxis und Interaktion entwickelt.
Für Pierre Bourdieu (Bourdieu 1990, S. 52 ff.) ist der Habitus zwar relativ stabil, aber dennoch wandelbar, wenn sich die sozialen Bedingungen ändern (Robinson et al. 2022, S. 10). Er ist eng mit dem Feld verbunden, in dem eine Person agiert (Armbruster 2023, S. 12–14). Der Habitus beeinflusst (beeinflusst, nicht bestimmt!) dabei nicht nur die Art und Weise, wie eine Person (feldspezifisch) handelt, sondern auch, wie sie sich in einem sozialen Kontext/Feld fühlt und was sie als möglich oder legitim betrachtet.

Kohärenzsinn

Ähnlich wie der Habitus entwickelt sich auch der Kohärenzsinn insbesondere in den frühen Lebensjahren und ist relativ stabil, aber veränderbar im späteren Lebensverlauf (Antonovsky 1987, S. 165). Er spiegelt eine grundlegende Haltung wider, mit der Menschen Herausforderungen, Stress, aber auch positiven Ereignissen begegnen und die Welt als zusammenhängend und sinnvoll erleben sowie das Gefühl haben, in ihr zurechtzukommen. So fördert der Kohärenzsinn unsere Gesundheit. Ebenso wie der Habitus umfasst der Kohärenzsinn kognitive und affektiv-motivationale Aspekte (Mertens 2008, S. 47). Die drei Dimensionen des Kohärenzsinns sind (Meier Magistretti 2022, S. 117):

Verstehbarkeit (Comprehensibility): Das Vertrauen eines Individuums, dass die Ereignisse im Leben strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind. Menschen mit einem hohen Maß an Verstehbarkeit sehen die Welt nicht als chaotisch, sondern als geordnet und nachvollziehbar.


Handhabbarkeit (Manageability): Diese Dimension beschreibt das Gefühl, dass man über die notwendigen Ressourcen verfügt, um mit den Anforderungen des Lebens umzugehen. Dies können beispielsweise persönliche Fähigkeiten, soziale Unterstützung oder materielle Mittel sein.


Sinnhaftigkeit (Meaningfulness): Die Sinnhaftigkeit betrifft das Gefühl, dass das Leben emotionale Bedeutung und einen Sinn hat und dass es sich lohnt, sich für die Bewältigung von Herausforderungen einzusetzen und sich in schönen Erlebnissen zu engagieren.

Kohärenzsinn als Teil des Habitus

Wie schon angedeutet, haben beide Konzepte einige Gemeinsamkeiten. Doch wie passen sie nun genauer zusammen? Hier einige Impulse:

  1. Sozialisation und Sinngebung: Sowohl der Habitus als auch der Kohärenzsinn werden in der Sozialisation geformt. Der Habitus wird durch die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen ein Individuum aufwächst, geprägt und beeinflusst, wie eine Person die Welt wahrnimmt und auf sie reagiert. Auch der Kohärenzsinn wird durch die Erfahrungen, die eine Person im Laufe ihres Lebens macht, geformt. Die wiederholte Erfahrung von Konsistenz und Partizipation sowie verschiedene Anforderungen fördert laut Antonovsky die Entwicklung eines starken Kohärenzsinns. In dieser Hinsicht könnte der Habitus als die umfassendere Struktur verstanden werden, in der der Kohärenzsinn als eine Komponente eingebettet ist.
  2. Handlungsfähigkeit und Ressourcen:  Handhabbarkeit ist das Vertrauen in die Verfügbarkeit von Ressourcen und Fähigkeiten, um mit Herausforderungen umzugehen. Auch dieses Konzept kann als eine spezifische Disposition innerhalb des Habitus betrachtet werden. Der Habitus beeinflusst die Art und Weise, wie Menschen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen wahrnehmen und nutzen. In diesem Sinne könnten Menschen mit einem stark ausgeprägten Kohärenzsinn eine spezifische, positivere Haltung gegenüber den Ressourcen entwickeln, die ihnen ihr Habitus zugänglich macht (oder Teil des Habitus sind). Dadurch haben sie erst Zugang beispielsweise zu ihrem kulturellen, sozialen, symbolischen und körperlichen/physischen sowie ökonomischen Kapital.
  3. Verständnis und Plausibilität: Die Verstehbarkeit kann in den Habitus integriert werden, da beide die Wahrnehmung und Orientierung in der sozialen Welt beeinflussen und prägen. Der Habitus hilft Individuen, ihre Umwelt als verstehbar und geordnet zu erleben, da er ihnen die sozialen Normen und Regeln intuitiv zugänglich macht und die Welt plausibel erscheinen lässt. Verstehbarkeit entsteht somit als Teil des Habitus. Eine ausgeprägte Verstehbarkeit erlaubt es uns im Gegenzug auch, in Feldern leichter zurechtzukommen, in denen wir bisher noch keine Erfahrung haben – dort, wo unser Habitus noch kein passendes Handlungsrepertoire zur Verfügung stellt uns aber vermittelt durch die Verstehbarkeit für die neuen Erfahrungen öffnet.
  4. Sinnhafte Lebensführung: Die dritte Komponente des Kohärenzsinns, die Sinnhaftigkeit, kann eng mit der emotionalen und motivationalen Struktur des Habitus verknüpft werden. Der Habitus beeinflusst, was eine Person als sinnvoll empfindet, da er das individuelle Verhältnis zu sozialen Strukturen, Normen und Erwartungen prägt. Eine Person mit einem Habitus, der eine positive Beziehung zu den sozialen Feldern, in denen sie agiert, fördert, könnte auch einen stärkeren Kohärenzsinn entwickeln, weil sie Herausforderungen als sinnvoller erlebt.
  5. Stabilität und Wandel: Der Habitus wie auch der Kohärenzsinn werden durch dynamische Prozesse geformt und als relativ stabil beschrieben. Dennoch sind beide Konzepte flexibel: Der Habitus kann sich beispielsweise durch den Eintritt in neue soziale Felder verändern, und der Kohärenzsinn kann durch neue Erfahrungen gestärkt oder geschwächt werden.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich aus dieser ersten sehr kurzen und knappen Übersicht erkennen, dass sowohl der Kohärenzsinn als auch der Habitus wichtige Perspektiven auf die Art und Weise bieten, wie Individuen in sozialen Kontexten handeln und die Welt wahrnehmen. In dieser Perspektive kann der Kohärenzsinn als spezielle Dimension oder Komponente des umfassenderen Habitus verstanden werden, die sich auf die Fähigkeit konzentriert, mit Stress umzugehen und ein „gesundes“ Leben zu führen. Der Habitus wiederum kann als grundlegender „sozialer Kompass“ gesehen werden.

Literatur

Antonovsky, Aaron. 1987. Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass.

Armbruster, André. 2023. Gesellschaft als Kraft, Spiel und Kampf. In Handbuch Theorien der Soziologie, Hrsg. Heike Delitz, Julian Müller und Robert Seyfert, 1–23. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Bourdieu, Pierre. 1990. The Logic of Practice. Stanford: Stanford University Press.

Kroneberg, Clemens. 2011. Die Erklärung sozialen Handelns. Grundlagen und Anwendung einer integrativen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Meier Magistretti, Claudia. 2022. The Sense of Coherence in the Life Course. In The Handbook of Salutogenesis, Hrsg. Maurice B. Mittelmark et al., 117–121. Wiesbaden: Springer.

Mertens, Gerhard. 2008. Balancen. Pädagogik und das Streben nach Glück. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh.

Miebach, Bernhard. 2022. Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 5. Aufl. Wiesbaden: Springer VS.

Robinson, Sarah, Jette Ernst, Ole Jacob Thomassen, und Kristian Larsen. 2022. Introduction: Taking Bourdieu further into studies of Organizations and Management. In Pierre Bourdieu in Studies of Organization and Management. Societal Change and Transforming Fields, Hrsg. Sarah Robinson, Jette Ernst, Kristian Larsen und Ole Jacob Thomassen, 1–19. Routledge.

Rommerskirchen, Jan. 2017. Soziologie & Kommunikation : Theorien und Paradigmen von der Antike bis zur Gegenwart. Wiesbaden: Springer.

Silva, Elizabeth B. 2016. Unity and fragmentation of the habitus. The Sociological Review 64: 166–183.

 

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