Professionelles Coaching, durchgeführt von gut ausgebildeten Coaches kann ein sehr probates Mittel sein (de Haan und Nilsson 2023), wenn es darum geht Menschen dabei zu begleiten, ihre Probleme selbst zu lösen, alternative Handlungsweisen zu entwickeln, die Lebens- oder Arbeitszufriedenheit zu steigern, bisher unerschlossene Pfade zu ergründen, oder – etwas allgemeiner – ein salutogeneres Leben zu führen.
Salutogenese
Salutogenese ist „die Wissenschaft von den Bedingungen, die Gesundheit ermöglichen, aufrechterhalten und wiederherstellen“ (Meier Magistretti et al. 2019, S. 17). Im Leben wirken immer wieder zahlreiche Stressoren auf uns ein, und das Konzept „erklärt“, wie Menschen den toxischen Strom des Lebens „überleben“ können (Antonovsky 1987). In modernerer Perspektive – und da knüpft dann auch das Coaching mit an – ist es allerdings nicht nur dieser toxische Strom, den wir durchschwimmen müssen und dann gestärkt daraus hervorgehen (können). Alltägliche Situationen verdeutlichen auch, dass es unzählige Gelegenheiten gibt, „in denen Menschen lernen, arbeiten, spielen und lieben und diese somit eine elementare Quelle für positive Lebenserfahrungen wie Freude, Wachstum, Gedeihen und Aufblühen sind“ (Bauer 2017, S. 157 übersetzt von DL).
Das Kohärenzgefühl (Sense of Coherense, SOC) mit den drei Elementen Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit spiegelt eine grundlegende Sicht auf das Leben und die Welt wider. Ein ausgeprägtes SOC unterstützt Menschen dabei, die Dinge grundsätzlich weniger pessimistisch zu sehen, auch dem Negativen eine Bedeutung geben zu können, dass Einsatz sich lohnt, sich Wahrgenommenes besser erklären und einzuordnen zu können und der Überzeugung zu sein, etwas tun zu können und auf die eigenen Ressourcen zurückgreifen zu können (Mittelmark und Bauer 2017). In guten wie in schlechten Zeiten.
Genau diese Ressourcen sind die sogenannten generalisierten Widerstandsressourcen (GRR). Eine GRR ist ein Merkmal über das ein Individuums verfügt (auch indirekt über Primärgruppen, das soziale Netzwerk, eine Subkultur oder die Gesellschaft), welches wirksam sowohl in der Vermeidung als auch in der Handhabung verschiedener Stressoren ist, sodass diese als produktive Spannungen genutzt werden können und nicht in Distress umschlagen (Eriksson 2022, S. 65). Zudem sind sie auch in guten Momenten ein hilfreicher Faktor diese voll zu genießen.
Da dieser Beitrag das Konzept nur anschneiden kann, empfehle ich das im Open Access erschienene Buch „Handbook of Salutgenesis“ (Mittelmark et al. 2022) oder in deutscher Sprache (kein Open Access) „Salutogenese kennen und verstehen“ (Meier Magistretti et al. 2019).
Bedeutung für das Coaching
Ob nun im Business und Leadership Coaching, im Life-Coaching oder verwandten Formaten, die beiden elementaren Konzepte der Salutogenese mit seiner stabilen empirischen Basis und validen Messinstrumenten (zahlrieche Beispiele gibt es in Mittelmark et al. 2022) – der Kohärenzsinn und die generalisierten Widerstandsressourcen – spielen eine zentrale Rolle. Beides hat einen maßgeblichen Einfluss darauf, wie wir mit schweren Situationen umgehen, Hürden meistern, Lösungen entwickeln oder allgemeiner gesagt, Entscheidungen treffen. Es hat auch einen Einfluss darauf, ob und inwieweit wir die guten und schönen Erlebnisse im Alltag annehmen und wirklich genießen können. Alles Dinge, bei denen Coaches Menschen unterstützen.
Und doch haben die meisten Coaches, mit denen ich in den letzten paar Jahren gesprochen habe, nur geringe Kenntnisse über die Salutogenese, wenn überhaupt. Auch wenn es durchaus Literatur zu „Salutogenese und Coaching“ gibt (z.B. Gray et al. 2014, Wandfluh 2019), hat das Konzept seinen Weg ins Coaching als zentrale Theorie noch nicht gefunden.
Anknüpfend an Kryl (2013) verstehe ich die Salutogenese als theoretisches Rahmenwerk für den Coaching-Prozess ebenso wie als „Strukturierungshilfe“ für das Coaching-Anliegen. Das Modell kann unseren Fokus für Reflexion und Analyse des Klienten und des Anliegens schärfen und bietet einen Orientierungsrahmen für die Auswahl passender Interventionen und Methoden.
Einen Einblick in den Kohärenzsinn des Coachee zu haben, ist eine solide Basis für die weitere Ergründung des Anliegens, unterstützt bei der Auswahl entsprechender Methoden und kann einen Beitrag zur Erklärung bisheriger „Lösungsversuche“ (oder das Ausbleiben dieser) leisten. Zudem leistet es einen substanziellen Beitrag für die Entscheidung, ob Coaching das passende Format ist, oder ob alternative Vorgehen (z.B. Training, Fachberatung oder Psychotherapie) nicht geeigneter sind. Ferner habe ich festgestellt, dass eine Verbesserung des SOC oft das eigentliche (von den Coachees nicht gut erfassbare) Anliegen hinter den sich zeigenden Symptomen ist.
Da Coaching ein lösungs– und ressourcenorientierter Ansatz ist, sind die GRR dort ohnehin anschlussfähig. Der Vorteil des Salutogenesemodells ist, dass dieser davon ausgeht, dass es nicht genügt, dass es Ressourcen gibt, sondern der Kohärenzsinn einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, ob wir diese überhaupt erkennen und dann auch noch auf sie zugreifen. Weiterhin ist die Erkenntnis, dass eine Nutzung der Ressourcen und das Meistern der Herausforderungen im Gegenzug das Kohärenzgefühl stärken (Bauer et al. 2020), hilfreich im Coachingprozess. Außerdem „lässt sich Business-Coaching als eine temporäre Widerstandsressource im arbeitsbezogenen Kontext bewerten, die wiederum ressourcenaktivierend und gesundheitsförderlich wirkt“ (Kryl 2013, S. 22). Gleiches gilt für die im Coaching kennengelernten und angewandten Herangehensweisen, Methoden und Techniken, die dann auf andere Lebensbereiche übertragen werden können (ebd., S. 24).
Ein weiterer Gedanke, der sich aus meiner Perspektive anschließt, ist der, dass Ressourcen in der Natur ihrer Sache endlich sind. Durch ein gesteigertes Maß an insbesondere Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit – so meine Erfahrung – lassen sich die verfügbaren Ressourcen nicht nur nutzen, sondern auch effizienter nutzen.
Abschließende Gedanken
Aufgrund der breiten Anwendbarkeit für das alltägliche Leben sowie den Business- oder organisationalen Kontext, sollten Ausbilder und Trainer für angehende Coaches und Berater:innen das Thema Salutogenese als grundlegende „Rahmentheorie“ in ihre Curricula aufnehmen. Zudem ermutige ich angehende Coaches und solche die es bereits sind, tiefer in das Modell einzutauchen und damit nicht nur die eigene Coaching-Praxis zu bereichern, sondern damit gleichzeitig auch den eigenen SOC zu stärken.
Literatur
Antonovsky, Aaron. 1987. Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well. San Francisco: Jossey-Bass.
Bauer, Georg F. et al. 2020. Future directions for the concept of salutogenesis: a position article. Health Promotion International 35: 187–195.
Bauer, Georg F. 2017. The Application of Salutogenesis in Everyday Settings. In The Handbook of Salutogenesis, Hrsg. Maurice B. Mittelmark et al. Cham (CH): Springer.
Eriksson, Monica. 2022. The Sense of Coherence: The Concept and Its Relationship to Health. In The Handbook of Salutogenesis, Hrsg. Maurice B. Mittelmark et al., 61–68. Cham: Springer Open.
Gray, Dee, Ambra Burls, und Marina Kogan. 2014. Salutogenisis and coaching: Testing a proof of concept to develop a model for practitioners. International Journal of Evidence Based Coaching and Mentoring 12: 41–58.
de Haan, Erik, und Viktor Nilsson. 2023. What Can We Know about the Effectiveness of Coaching? A Meta-Analysis Based Only on Randomized Controlled Trials. Academy of Management Learning and Education 0: 1–21.
Kryl, Ilona Patricia. 2013. Salutogenese und Coaching. Coaching Magazin 2013: 20–24.
Meier Magistretti, Claudia, Bengt Lindström, und Monica Eriksson, Hrsg. 2019. Salutogenese kennen und verstehen. Konzepte, Stellenwert, Forschung und praktische Anwendung. Bern: Hogrefe.
Mittelmark, Maurice et al., Hrsg. 2022. The Handbook of Salutogenesis. Wiesbaden: Springer.
Mittelmark, Maurice B., und Georg F. Bauer. 2017. The Meanings of Salutogenesis. In The Handbook of Salutogenesis, Hrsg. Maurice B. Mittelmark et al., 7–13. Wiesbaden: Springer.
Wandfluh, René, 2019. Salutogenese in Coachinggesprächen im Bereich Stress. In Salutogenese kennen und verstehen, Hrsg. Meier Magistretti C., Lindström B und Eriksson M., 2-35-242, Cham: Hogrefe.