Aus meiner Sicht ist das Salutogenesemodell eine ausgesprochen gute Rahmentheorie für die (Organisations-)Beratung, fürs Coaching, für psychologische Beratung und verwandte Formate. Einen Überblick über Salutogenese in Beratung und Coaching gibt es hier. Das Thema Ressourcen in der Praxis bespreche ich hier besprochen und ein paar Gedankenanstöße, die Verstehbarkeit zu fördern, finden sich hier.
Sinnhaftigkeit
Unter den drei Dimensionen des Kohärenzsinns, der Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Handhabbarkeit, hat Antonovsky die Sinnhaftigkeit als die zentralste für eine salutogene Entwicklung in Richtung „ease“ angesehen (Maass 2019, S. 138).
Menschen mit einem ausgeprägten Gefühl der Sinnhaftigkeit, können verschiedenen Lebensbereichen, Aktivitäten oder auch materiellen Dingen Bedeutung und Wichtigkeit „zuweisen“. Das können die eigenen Gedanken und Gefühle sein, zentrale Aktivitäten in Beruf und Freizeit, oder existenzielle Fragen ((siehe dazu Mertens 2008, S. 48–49)). Wenn etwas sinnhaft für uns ist, sind wir bereit, Energie (körperlich, kognitiv, und emotional) zu investieren und uns zu engagieren (Antonovsky 1997). Das gilt sowohl für die guten Dinge im Leben, von denen wir dadurch voll zehren können, als auch für die Herausforderungen, Krisen und sonstige Stressoren, denen wir immer wieder begegnen.
Wie der Kohärenzsinn an sich, ist dementsprechend die Basis unseres Gefühls für Sinnhaftigkeit weitestgehend habitualisiert als Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsmuster (hier knüpfe ich an Bourdieus Habitus-Theorie an (z.B. Bourdieu und Wacquant 1996)) und läuft überwiegend unterhalb des Bewusstseinsradars ab.
Zu unterstreichen ist, dass es nicht darum geht, alles immer sinnvoll zu finden oder schlimme Erlebnisse schönzureden. Es geht um die grundlegende Tendenz, Dingen und Erlebnissen einen Sinn zuschreiben zu können, um sich a) überhaupt zu engagieren (oder auch zu wehren!) und b) sich vom „toxischen Strom des Lebens“ nicht „runterziehen“ zu lassen, sondern es durchzustehen und sogar gestärkt hervorzugehen.
Um unsere Sinnhaftigkeit oder die unserer Klienten zu stärken, gibt es hier ein paar Anregungen.
Ein paar Tipps zur Stärkung der Sinnhaftigkeit
Die folgenden Anregungen können nicht nur als Intervention in Coaching und Beratung genutzt werden, sondern auch zur individuellen (kritischen) Selbstreflexion und persönlichen Weiterentwicklung.
Werte identifizieren
Reflektieren Sie darüber, was Ihnen im Leben wirklich wichtig ist, Ihre persönlichen Werte und Überzeugungen. Indem Sie sich auf diese Werte konzentrieren, können Sie einen tieferen Sinn in Ihren Handlungen und Entscheidungen finden. Zudem ist es eine Notwendigkeit für den nächsten Punkt:
Ziele setzen
Definieren Sie klare Ziele und Zwecke für sich selbst. Wenn Sie ein Ziel haben, das für Sie wichtig und bedeutsam ist – also auf Ihre Werte einzahlt –, kann dies Ihnen helfen, Motivation und Sinn in Ihren Handlungen zu finden. Allein der Prozess der Ziel- und Zweckfindung und die Fragen des „Warum“ und „Wozu“ erzeugen Sinn. Dazu sollten die Ziele mit Ihren übergeordneten Werten verknüpft sein, damit Sie nicht bei Zielerreichung dastehen und denken „was nun?“. Es ist also essenziell Ziel Und Zwecke immer wieder in den Blick zu nehmen und diese ggf. anzupassen oder neue zu setzen.
Bedeutung in Beziehungen
Pflegen Sie Ihre Beziehungen zu Familie, Freunden und anderen wichtigen Menschen in Ihrem Leben – und zwar proaktiv. Schenken Sie diesen Beziehungen Zeit und Aufmerksamkeit. Die Verbundenheit zu anderen Menschen kann ein wichtiger Quell für Bedeutung und Sinn im Leben sein. Beziehungen sind also auch eine Ressource für Sinnhaftigkeit.
Werfen sie auch einen Blick auf die weniger Bedeutsamen oder gar negativen Beziehungen: Wie können Sie mit denen umgehen?
Engagement in sinnvoller Arbeit und Aktivitäten
Suchen Sie nach Möglichkeiten, sich in Aktivitäten zu engagieren, die Ihnen Freude bereiten und Ihren Werten entsprechen. Dies kann eine berufliche Tätigkeit, ehrenamtliche Arbeit, kreative Hobbys oder gemeinnützige Projekte umfassen. Doch auch eine Reflexion der Dinge, die Sie nicht so gerne tun, ist hilfreich, denn auch diese können bedeutsam sein, z.B. weil sie Ihre körperliche Gesundheit fördern oder einen wichtigen Beitrag zum Erfolg Ihres Arbeitgebers leisten.
Nach neuen Erfahrungen und Herausforderungen suchen
Das Erleben neuer Erfahrungen und das Überwinden von Herausforderungen kann dazu beitragen, Ihre Perspektive zu erweitern und einen Sinn in Ihrem Leben zu finden. Doch bevor sie blind losrennen, gehen Sie in sich und erkunden, wie viel „Neues“ sie wirklich brauchen. Da können Menschen sehr unterschiedlich sein. Unabhängig davon bietet jede Veränderung eben auch Chancen, auch wenn wir die Veränderung nicht mögen. Sich dessen bewusst zu werden hilft insbesondere, wenn uns die Veränderung erstmal „so gar nicht schmeckt“.
Über vergangene Erfahrungen reflektieren
Nehmen Sie sich Zeit, um über vergangene Erfahrungen nachzudenken und zu überlegen, welche Bedeutung diese für Sie hatten. Das kann beispielsweise einmal pro Woche, einmal pro Monat oder auch unmittelbar nach bedeutsamen Ereignissen sein. Dies kann Ihnen helfen, Muster zu erkennen und einen Sinn in Ihrem Lebensweg zu finden. Dazu gehört auch Dinge, wie sie beispielsweise Ihre Lektion aus Fehlern gelernt haben oder wie Sie mit Krisen o.ä. abgeschlossen haben – oder auch, wie Sie das bisher nicht gemacht haben und es zukünftig tun können.
Dankbarkeit
Achten Sie bewusst auf die positiven Aspekte Ihres Lebens und üben Sie Dankbarkeit aus. Durch das Schätzen und Wertschätzen dessen, was Sie haben, fällte es Ihnen immer leichter Sinn und Bedeutung zu finden. Tauschen Sie sich beispielsweise jeden Abend mit Familie oder Freunden darüber aus, welche drei Dinge besonders schön an diesem Tag waren. Das können auch ganz kleine Kleinigkeiten sein.
Fazit
Diese nicht ausschöpfende Liste an Anregungen können Sie für sich selbst oder Ihre Klienten nach Maß nutzen. Viel wichtiger als alles perfekt und lehrbuchhaft zu machen ist die Regelmäßigkeit – lieber eine Sache täglich/mehrfach die Woche, als alles gezwungen in den Alltag zu quetschen. Zudem geht es nicht darum möglichst viel oder alles dieser Anregungen (oder noch mehr) umzusetzen. Schauen Sie, was gut funktioniert, experimentieren Sie, fügen immer mal neue Aspekte hinzu oder lassen welche weg. Sie haben es in der Hand – so wird es für Sie handhabbar.
Literatur
Bourdieu, Pierre, und Loïc Wacquant. 1996. Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Maass, Ruca Elisa Katrin. 2019. Kohärenzsinn und Alltagserlebnisse. In Salutogenese kennen und verstehen. Konzepte, Stellenwert, Forschung und praktische Anwendung, Hrsg. Claudia Meier Magistretti, Bengt Lindström und Monica Eriksson, 137–146. Cham: Hogrefe.
Mertens, Gerhard. 2008. Balancen. Pädagogik und das Streben nach Glück. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh.